RabiatorV.I.P.
#1Es gibt einige Dinge, die für mich dagegen sprechen, "Ashita, Mama ga inai" unter den besten J-Dramen einzuordnen, die ich bis jetzt geschaut habe. Der Einstieg in die Serie nach der ersten Szene ist fürchterlich misslungen - und zwar so sehr, dass es den geneigten Zuschauer soweit abstoßen kann, dass er die Serie an irgendeinem Punkt der ersten Folge abbricht. Die Betreuer im und um das Waisenhaus fühlen sich am Anfang an wie Psychopathen oder Kriminelle, und die Mittel und Methoden scheinen aus längst vergangenen Zeiten zu stammen. Die Reaktionen auf die erste Folge gingen soweit, dass sich Japans nationaler Verband für Waisenhäuser über die unrealistische Darstellung der Abläufe im dargestellten Waisenhaus Kogamo no Ie (kleines Entenhaus) beschwerte und der japanische Minister für Soziales, Norihisa Tamura, in einer Legislatursitzung erwähnte, dass sich eine Bewohnerin eines Waisenhauses nach dem Schauen der ersten Folge selbst verletzte. In der Folge sprangen sogar zwei bekannte Sponsoren ab. Spätere, potentiell ebenfalls umstrittene Szenen fielen der Zensurschere zum Opfer, damit die Serie überhaupt weiter gezeigt werden konnte.
Für mich war der Punkt maximaler Empörung erreicht, als der Heimleiter Tomonori Sasaki in der ersten Folge seine Schützlinge beim Frühstück als Hündchen bezeichnet, die sich einfach nur niedlich zu präsentieren hätten - damit sie überhaupt eine Familie in Adoption nimmt. Ganz als ob da nicht kleine, für Untertöne besonders empfindsame Menschen säßen, deren Seelen durch ihre Umstände schon genug geprügelt worden sind. Ich habe die Serie dann doch nicht abgebrochen, weil Donki (gespielt von Rio Suzuki) sich gegen diesen Spruch direkt wehrt - und weil kurze Zeit später Mana Ashida, die Posuto spielt, einen genialen Schauspielmoment hatte, nach dem mir der Mund ähnlich offen stand wie Donki in der entsprechenden Szene.
Warum sollte man sich die Serie also trotzdem anschauen?
Erstens, es ist schauspielerisch eine Augenweide. Aus dem größtenteils sehr guten Ensemble ragen m. E. Hiroshi Mikamis "Sasaki-Ahab", Mana Ashidas Posuto und Rio Suzukis Donki noch heraus - die aber auch das Glück hatten, die realitätsnächsten Charaktere spielen zu dürfen. Was Mana Ashida aus Posuto herausholt, habe ich so von einer Zehnjährigen noch nicht gesehen. Sicherlich gibt ihr das Skript etwas zuviel Lebensweisheit selbst für ein Heimkind mit auf den Weg - aber diese Lebensweisheit muss man erstmal glaubhaft umsetzen! Im Ergebnis wirkt das so, als ob da eine erwachsene, reife Frau in einem Kinderkörper herumrennte. Absolut faszinierend - dagegen kommen nicht mal gelegentliche Schwächen im Script an!
Wie es häufig in Japan vorkommt (siehe z. B. GTO), ist die Außendarstellung von Institutionen wichtiger als das, was tatsächlich hinter verschlossenen Türen passiert. Um die Thematik der Serie besser verstehen zu können, mag man sich vielleicht im Nachhinein diese Dokumentation (leider in Englisch) anschauen. Nachdem ich beides gesehen hatte, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Serie in Summe sogar eine Utopie darstellt und damit möglicherweise bereits normativ auf die japanische Gesellschaft wirkt. Das Potential ist insgesamt auf jeden Fall vorhanden, dass Misstände identifiziert und zukünftige Adoptiveltern für das Thema sensibilisiert werden. Wenn man die Geschichte bis zum Ende verfolgt hat, liegt die Annahme nahe, dass die erste Viertelstunde eigentlich nur den Schock wiedergeben sollte, den Donki erleidet, nachdem ihre bisherige Welt zusammengebrochen ist, und sie traumatisiert in einer vollkommen neuen Umgebung strandet. Die überspitzte Darstellung der Charaktere passt aber eben leider nicht wirklich zu den Menschen, die man in den späteren Folgen kennenlernt - sondern vielleicht doch eher zur Wirklichkeit?
Fakt ist auch, dass die Serie schon in der zweiten Hälfte der ersten Folge einige starke Momente hat, und dass sie sich spätestens ab der zweiten Folge rührend um die Einzelschicksale der Waisenkinder kümmert. Auch die in der ersten Folge noch kalt erscheinenden Erwachsenen werden näher beleuchtet, und es werden nachvollziehbare Gründe für ihr Verhalten aufgezeigt. Alsbald stellte sich bei mir eine nahezu vollständige Immersion ein, die mich bis in die tiefe Nacht hinein die Serie hat in einem Ritt durchschauen lassen. Außerdem ist die Auflösung der Einzelschicksale nicht nur der Kinder m. E. herausragend gelungen. Über manche Auflösung hab ich noch tagelang nachgegrübelt. Ich habe mich einmal mehr dabei ertappt, dass das Gezeigte auf mein eigenes Verhalten normativ wirkte. Ich empfinde das als "ziemlich viel erreicht", für eine Fernsehserie.
Also, schaut sie euch an, übersteht irgendwie die erste halbe Stunde(!), und später treffen wir uns vielleicht etwas weiter unten in dieser Rezension wieder, wo ich - spoilerbehaftet! - die Serie noch ein wenig analysieren möchte.
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Ab hier geht der Spoilerbereich los:
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Ich hatte weiter oben angesprochen, dass die Serie vielleicht sogar eine Utopie darstellt, was aber auch an der Wahl der Einzelschicksale vor allem der Kinder liegen könnte. Die Insassen sind meiner Meinung nach - bis auf wenige Ausnahmen - um einiges zu weich gezeichnet. Außer Donki, Otsubone und Pachi sind alle Kinder Opfer unglücklicher Umstände und in eigentlich intakten Familien aufgewachsen. Posuto zählt hier nicht, da sie von Anfang an die volle Aufmerksamkeit der Heimleitung (insbesondere Sasakis) hatte und deshalb vernünftig sozialisiert wurde, wie man später auch sieht.
In der Realität ist der Anteil "zerbrochener" Kinder wesentlich höher, die sich in gefühlskalten, gewaltorientierten oder missbrauchenden Umgebungen Überlebensstrategien zulegen, welche sich dann wiederum im Kinderheim oder im betreuten Wohnen nicht so einfach abstellen lassen. Diese friedvolle und freundliche Atmosphäre unter den Mädels, Locker und später auch Otsubone stellt sich so in der Regel selbst unter optimalen Bedingungen nicht ein. Der Anriss der dunklen Seite Donkis ist schon näher dran an der Wahrheit. Im Ergebnis sind diese Kinder meistens alles andere als süß. Die in der Serie portraitierte, angestrebte Sicherheit in der Adoptivfamilie gibt es tatsächlich häufig nur teilweise und sehr spät oder gar überhaupt nicht. Viele verlassene Kinder schaffen es heutzutage nicht in ein erfülltes Leben, weil sie mit 18 mit ihrem Scherbenhaufen allein gelassen werden. Ich kenne Ausnahmen, die dann wie Posuto besondere Tiefe im Charakter haben - aber diese waren meist von Anfang an stark und hatten auch in ihren schwersten Phasen positive Einflüsse.
Es ist vollkommen klar, dass man solche zerrissenen Kinder nicht ungeschönt in einem Drama zeigen kann - so deprimierendes Zeug schauen sich nur wenige Menschen freiwillig an. Genau deshalb betrachte ich die Serie als Utopie, die sich unter günstigsten Umständen auch in der Wirklichkeit so zutragen könnte, aber eben nur wenn es engagierte Bezugspersonen wie Herrn Sasaki und Frau Mizusawa gibt.
In Bezug auf die Erwachsenen der Serie sieht das mit dem Weichzeichnen ein bisschen anders aus. Locker und Mizusawa-san (die "Eispuppe") hatten als Jugendliche beide realistische Einzelschicksale, sind in der Serie aber schon erwachsen. Sasakis Umstände sind tragisch, Lockers Umstände ebenso. Letzterer hat zwar eine liebende Mutter, die er aber nach dem Mord am gewalttätigen Vater bis zu ihrem Tod nicht mehr zu sehen kriegt, und die kalt anmutende, letzte Szene mit ihr bereut er kurze Zeit später selbst am meisten. Was mir an der Umsetzung von Lockers Rolle sehr gefallen hat: Er kommt hundertprozentig als zuverlässiger Mitarbeiter im Heim und als liebenswerter Mensch rüber, ohne dass er bis zur achten Folge ein einziges Wort sagt. Großartig gemacht, ebenso wie der Moment, als Posuto ihn fragt, ob er auf sie warten möchte. Posuto ist einer der beiden ethischen Anker der Serie; obwohl auch sie Fehler macht, weiß man doch nach dieser Szene, dass man Locker unbedingt vertrauen kann - egal, was da noch kommt...
Was Mizusawa-san in ihrer Jugend erlebt hat, wird nur angedeutet. Es muss auf jeden Fall so finster gewesen sein, dass sie das Vertrauen in ihre Mitmenschen komplett verloren hat. Eine der stärksten Szenen der Serie ist für mich die, als Mizusawa Posuto in Lockers tiefster Krise fragt, wie sie es schafft, ihm zu vertrauen. Posutos Antwort, "Locker ist halt einfach Locker" zeigt, dass sie ihren Mitmenschen vertrauen kann, wenn sie bislang nicht enttäuscht worden ist. Mizusawa kann das nicht, obwohl Locker sie sehr wahrscheinlich auch nie enttäuscht hat. Posutos Urteil vertraut sie jedoch - weil sie sich selbst in ihr sieht? Ihre beginnende Heilung ist für mich letztlich eine der stärksten Botschaften der Serie, weil sie in ihrer Motivation sehr realistisch wirkt.
Wenn ich Schwächen aufzählen sollte, sind das neben dem angesprochenen Fehlstart die Geschichten Bombis und, weniger prägnant, Piamis. Es ist mir vollkommen klar, dass Bombi als eine Art genki girl die Serie humorvoll aufpeppen soll, aber häufig kam mir ihr Part übertrieben vor, besonders die Joripi-Stellen. Ihre Hintergrundgeschichte ist mit dem Unfalltod ihrer Eltern dagegen glaubwürdig, ebenso wie ihre Bewältigungsstrategie. Sehr amüsant war, wie sie zum Jungen wurde; herausragend der Moment der Adoption selbst, der einen der stärksten und nachdrücklichsten Dialoge in der ganzen Serie liefert, weil er die Gedankenwelt des jungen Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Piamis Hintergrundgeschichte empfinde ich deswegen als problematisch, weil mir die Motivation des Vaters, seinem Kind aufgrund seiner Armut keine Steine in den Weg zu legen, nicht befriedigend begründet zu sein scheint. In Anbetracht der oben empfohlenen Dokumentation und des niedrigen Status', den ehemalige "Institutionskinder" in Japan haben, erscheint es mir wesentlich sinnvoller, auf einer Fläche von sechs Tatamis mit seiner eigenen Tochter sparsam zusammenzuleben, als dem Kind sechs Tatamis in einem Heim zuzumuten. Ich weiß, dass Piami sich des Dramas wegen nahezu eine Minute lang die Augen ausheulen muss, aber die Schreie der Kleinen nach ihrem Vater sind schwer zu ertragen, und der Herr lässt sich viel zu lange Zeit, seinen Koffer fallen zu lassen. Wenigstens sieht man kurz darauf, dass es ihm ernst ist. ... Wenn man später versucht, Piamis Geschichte als Gleichnis zu begreifen und anfängt darüber nachzudenken, in wie vielen täglichen Entscheidungsfällen die Wünsche der Kinder gar nicht erst berücksichtigt werden, kommt man mehrere Tage lang nicht aus dem Grübeln raus. Insofern gilt auch auch hier: Ziel erreicht.
Da ich nicht mit einem negativen Punkt aufhören möchte, kommt das Beste zum Schluss. Der Vergleich des Heimleiters Sasaki mit Capt'n Ahab aus Moby Dick ist nicht nur wegen des Hinkebeins naheliegend. Von der ersten Minute an ist bei ihm eine unerklärliche, tiefliegende Verbitterung zu spüren, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat, und die verhindert, dass seine wahren Gefühle sowie sein Einsatz für die Kinder ans Tageslicht kommen. Posuto wurde hauptsächlich von ihm sozialisiert, und genau deshalb ist sie, wie Locker später sagt, in vielen Dingen sein Abbild. Sie kann ihre Gefühle und Gedanken ausdrücken, und so sehen wir, wie sich sich für ihre Freunde und Mitmenschen einsetzt - gegen den Boykott Lockers, bei der Enttarnung von Donkis Mutter, die Rückholung Otsubones und handfeste Unterstützung für Piami bei Ren-kuns Geburtstag, sie zeigt es. Durch Posutos Reaktionen können wir ahnen, wie Sasaki wirklich ist, lange bevor es in der Serie offenbart wird. Wie sehr sie sich ähneln, kann man am Ende der achten Folge sehen, als sie sich nach der Befreiung Donkis vom Zugriff ihrer Mutter gegenseitig befriedigt angrinsen. Schon in diesem Moment ist eigentlich klar, wo der Plot mit den beiden am Ende hinwill.
Dennoch wird die letzte Folge noch einmal spannend, weil Sasaki es ohne die Hilfe der ehemaligen Heimbewohner, der Eispuppe und Lockers nicht von allein geschafft hätte, Posuto ihren falschen Traum auszureden. Man kommt nicht dran vorbei festzustellen, dass kein einziger der portraitierten Menschen ohne die Hilfe der anderen irgendwie weitergekommen wäre - wie in einer funktionierenden Familie üblich. Und allein diese Feststellung hätte mir als Lehre des Dramas schon genügt!
Alles in allem verdient sich das Werk aus meiner Sicht ein klare Empfehlung für alle, die über einen schwachen Start und Abweichungen von der Wirklichkeit hinwegsehen können, um ein starkes Finish zu erleben.
Für mich war der Punkt maximaler Empörung erreicht, als der Heimleiter Tomonori Sasaki in der ersten Folge seine Schützlinge beim Frühstück als Hündchen bezeichnet, die sich einfach nur niedlich zu präsentieren hätten - damit sie überhaupt eine Familie in Adoption nimmt. Ganz als ob da nicht kleine, für Untertöne besonders empfindsame Menschen säßen, deren Seelen durch ihre Umstände schon genug geprügelt worden sind. Ich habe die Serie dann doch nicht abgebrochen, weil Donki (gespielt von Rio Suzuki) sich gegen diesen Spruch direkt wehrt - und weil kurze Zeit später Mana Ashida, die Posuto spielt, einen genialen Schauspielmoment hatte, nach dem mir der Mund ähnlich offen stand wie Donki in der entsprechenden Szene.
Warum sollte man sich die Serie also trotzdem anschauen?
Erstens, es ist schauspielerisch eine Augenweide. Aus dem größtenteils sehr guten Ensemble ragen m. E. Hiroshi Mikamis "Sasaki-Ahab", Mana Ashidas Posuto und Rio Suzukis Donki noch heraus - die aber auch das Glück hatten, die realitätsnächsten Charaktere spielen zu dürfen. Was Mana Ashida aus Posuto herausholt, habe ich so von einer Zehnjährigen noch nicht gesehen. Sicherlich gibt ihr das Skript etwas zuviel Lebensweisheit selbst für ein Heimkind mit auf den Weg - aber diese Lebensweisheit muss man erstmal glaubhaft umsetzen! Im Ergebnis wirkt das so, als ob da eine erwachsene, reife Frau in einem Kinderkörper herumrennte. Absolut faszinierend - dagegen kommen nicht mal gelegentliche Schwächen im Script an!
Wie es häufig in Japan vorkommt (siehe z. B. GTO), ist die Außendarstellung von Institutionen wichtiger als das, was tatsächlich hinter verschlossenen Türen passiert. Um die Thematik der Serie besser verstehen zu können, mag man sich vielleicht im Nachhinein diese Dokumentation (leider in Englisch) anschauen. Nachdem ich beides gesehen hatte, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Serie in Summe sogar eine Utopie darstellt und damit möglicherweise bereits normativ auf die japanische Gesellschaft wirkt. Das Potential ist insgesamt auf jeden Fall vorhanden, dass Misstände identifiziert und zukünftige Adoptiveltern für das Thema sensibilisiert werden. Wenn man die Geschichte bis zum Ende verfolgt hat, liegt die Annahme nahe, dass die erste Viertelstunde eigentlich nur den Schock wiedergeben sollte, den Donki erleidet, nachdem ihre bisherige Welt zusammengebrochen ist, und sie traumatisiert in einer vollkommen neuen Umgebung strandet. Die überspitzte Darstellung der Charaktere passt aber eben leider nicht wirklich zu den Menschen, die man in den späteren Folgen kennenlernt - sondern vielleicht doch eher zur Wirklichkeit?
Fakt ist auch, dass die Serie schon in der zweiten Hälfte der ersten Folge einige starke Momente hat, und dass sie sich spätestens ab der zweiten Folge rührend um die Einzelschicksale der Waisenkinder kümmert. Auch die in der ersten Folge noch kalt erscheinenden Erwachsenen werden näher beleuchtet, und es werden nachvollziehbare Gründe für ihr Verhalten aufgezeigt. Alsbald stellte sich bei mir eine nahezu vollständige Immersion ein, die mich bis in die tiefe Nacht hinein die Serie hat in einem Ritt durchschauen lassen. Außerdem ist die Auflösung der Einzelschicksale nicht nur der Kinder m. E. herausragend gelungen. Über manche Auflösung hab ich noch tagelang nachgegrübelt. Ich habe mich einmal mehr dabei ertappt, dass das Gezeigte auf mein eigenes Verhalten normativ wirkte. Ich empfinde das als "ziemlich viel erreicht", für eine Fernsehserie.
Also, schaut sie euch an, übersteht irgendwie die erste halbe Stunde(!), und später treffen wir uns vielleicht etwas weiter unten in dieser Rezension wieder, wo ich - spoilerbehaftet! - die Serie noch ein wenig analysieren möchte.
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Ich hatte weiter oben angesprochen, dass die Serie vielleicht sogar eine Utopie darstellt, was aber auch an der Wahl der Einzelschicksale vor allem der Kinder liegen könnte. Die Insassen sind meiner Meinung nach - bis auf wenige Ausnahmen - um einiges zu weich gezeichnet. Außer Donki, Otsubone und Pachi sind alle Kinder Opfer unglücklicher Umstände und in eigentlich intakten Familien aufgewachsen. Posuto zählt hier nicht, da sie von Anfang an die volle Aufmerksamkeit der Heimleitung (insbesondere Sasakis) hatte und deshalb vernünftig sozialisiert wurde, wie man später auch sieht.
In der Realität ist der Anteil "zerbrochener" Kinder wesentlich höher, die sich in gefühlskalten, gewaltorientierten oder missbrauchenden Umgebungen Überlebensstrategien zulegen, welche sich dann wiederum im Kinderheim oder im betreuten Wohnen nicht so einfach abstellen lassen. Diese friedvolle und freundliche Atmosphäre unter den Mädels, Locker und später auch Otsubone stellt sich so in der Regel selbst unter optimalen Bedingungen nicht ein. Der Anriss der dunklen Seite Donkis ist schon näher dran an der Wahrheit. Im Ergebnis sind diese Kinder meistens alles andere als süß. Die in der Serie portraitierte, angestrebte Sicherheit in der Adoptivfamilie gibt es tatsächlich häufig nur teilweise und sehr spät oder gar überhaupt nicht. Viele verlassene Kinder schaffen es heutzutage nicht in ein erfülltes Leben, weil sie mit 18 mit ihrem Scherbenhaufen allein gelassen werden. Ich kenne Ausnahmen, die dann wie Posuto besondere Tiefe im Charakter haben - aber diese waren meist von Anfang an stark und hatten auch in ihren schwersten Phasen positive Einflüsse.
Es ist vollkommen klar, dass man solche zerrissenen Kinder nicht ungeschönt in einem Drama zeigen kann - so deprimierendes Zeug schauen sich nur wenige Menschen freiwillig an. Genau deshalb betrachte ich die Serie als Utopie, die sich unter günstigsten Umständen auch in der Wirklichkeit so zutragen könnte, aber eben nur wenn es engagierte Bezugspersonen wie Herrn Sasaki und Frau Mizusawa gibt.
In Bezug auf die Erwachsenen der Serie sieht das mit dem Weichzeichnen ein bisschen anders aus. Locker und Mizusawa-san (die "Eispuppe") hatten als Jugendliche beide realistische Einzelschicksale, sind in der Serie aber schon erwachsen. Sasakis Umstände sind tragisch, Lockers Umstände ebenso. Letzterer hat zwar eine liebende Mutter, die er aber nach dem Mord am gewalttätigen Vater bis zu ihrem Tod nicht mehr zu sehen kriegt, und die kalt anmutende, letzte Szene mit ihr bereut er kurze Zeit später selbst am meisten. Was mir an der Umsetzung von Lockers Rolle sehr gefallen hat: Er kommt hundertprozentig als zuverlässiger Mitarbeiter im Heim und als liebenswerter Mensch rüber, ohne dass er bis zur achten Folge ein einziges Wort sagt. Großartig gemacht, ebenso wie der Moment, als Posuto ihn fragt, ob er auf sie warten möchte. Posuto ist einer der beiden ethischen Anker der Serie; obwohl auch sie Fehler macht, weiß man doch nach dieser Szene, dass man Locker unbedingt vertrauen kann - egal, was da noch kommt...
Was Mizusawa-san in ihrer Jugend erlebt hat, wird nur angedeutet. Es muss auf jeden Fall so finster gewesen sein, dass sie das Vertrauen in ihre Mitmenschen komplett verloren hat. Eine der stärksten Szenen der Serie ist für mich die, als Mizusawa Posuto in Lockers tiefster Krise fragt, wie sie es schafft, ihm zu vertrauen. Posutos Antwort, "Locker ist halt einfach Locker" zeigt, dass sie ihren Mitmenschen vertrauen kann, wenn sie bislang nicht enttäuscht worden ist. Mizusawa kann das nicht, obwohl Locker sie sehr wahrscheinlich auch nie enttäuscht hat. Posutos Urteil vertraut sie jedoch - weil sie sich selbst in ihr sieht? Ihre beginnende Heilung ist für mich letztlich eine der stärksten Botschaften der Serie, weil sie in ihrer Motivation sehr realistisch wirkt.
Wenn ich Schwächen aufzählen sollte, sind das neben dem angesprochenen Fehlstart die Geschichten Bombis und, weniger prägnant, Piamis. Es ist mir vollkommen klar, dass Bombi als eine Art genki girl die Serie humorvoll aufpeppen soll, aber häufig kam mir ihr Part übertrieben vor, besonders die Joripi-Stellen. Ihre Hintergrundgeschichte ist mit dem Unfalltod ihrer Eltern dagegen glaubwürdig, ebenso wie ihre Bewältigungsstrategie. Sehr amüsant war, wie sie zum Jungen wurde; herausragend der Moment der Adoption selbst, der einen der stärksten und nachdrücklichsten Dialoge in der ganzen Serie liefert, weil er die Gedankenwelt des jungen Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Piamis Hintergrundgeschichte empfinde ich deswegen als problematisch, weil mir die Motivation des Vaters, seinem Kind aufgrund seiner Armut keine Steine in den Weg zu legen, nicht befriedigend begründet zu sein scheint. In Anbetracht der oben empfohlenen Dokumentation und des niedrigen Status', den ehemalige "Institutionskinder" in Japan haben, erscheint es mir wesentlich sinnvoller, auf einer Fläche von sechs Tatamis mit seiner eigenen Tochter sparsam zusammenzuleben, als dem Kind sechs Tatamis in einem Heim zuzumuten. Ich weiß, dass Piami sich des Dramas wegen nahezu eine Minute lang die Augen ausheulen muss, aber die Schreie der Kleinen nach ihrem Vater sind schwer zu ertragen, und der Herr lässt sich viel zu lange Zeit, seinen Koffer fallen zu lassen. Wenigstens sieht man kurz darauf, dass es ihm ernst ist. ... Wenn man später versucht, Piamis Geschichte als Gleichnis zu begreifen und anfängt darüber nachzudenken, in wie vielen täglichen Entscheidungsfällen die Wünsche der Kinder gar nicht erst berücksichtigt werden, kommt man mehrere Tage lang nicht aus dem Grübeln raus. Insofern gilt auch auch hier: Ziel erreicht.
Da ich nicht mit einem negativen Punkt aufhören möchte, kommt das Beste zum Schluss. Der Vergleich des Heimleiters Sasaki mit Capt'n Ahab aus Moby Dick ist nicht nur wegen des Hinkebeins naheliegend. Von der ersten Minute an ist bei ihm eine unerklärliche, tiefliegende Verbitterung zu spüren, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat, und die verhindert, dass seine wahren Gefühle sowie sein Einsatz für die Kinder ans Tageslicht kommen. Posuto wurde hauptsächlich von ihm sozialisiert, und genau deshalb ist sie, wie Locker später sagt, in vielen Dingen sein Abbild. Sie kann ihre Gefühle und Gedanken ausdrücken, und so sehen wir, wie sich sich für ihre Freunde und Mitmenschen einsetzt - gegen den Boykott Lockers, bei der Enttarnung von Donkis Mutter, die Rückholung Otsubones und handfeste Unterstützung für Piami bei Ren-kuns Geburtstag, sie zeigt es. Durch Posutos Reaktionen können wir ahnen, wie Sasaki wirklich ist, lange bevor es in der Serie offenbart wird. Wie sehr sie sich ähneln, kann man am Ende der achten Folge sehen, als sie sich nach der Befreiung Donkis vom Zugriff ihrer Mutter gegenseitig befriedigt angrinsen. Schon in diesem Moment ist eigentlich klar, wo der Plot mit den beiden am Ende hinwill.
Dennoch wird die letzte Folge noch einmal spannend, weil Sasaki es ohne die Hilfe der ehemaligen Heimbewohner, der Eispuppe und Lockers nicht von allein geschafft hätte, Posuto ihren falschen Traum auszureden. Man kommt nicht dran vorbei festzustellen, dass kein einziger der portraitierten Menschen ohne die Hilfe der anderen irgendwie weitergekommen wäre - wie in einer funktionierenden Familie üblich. Und allein diese Feststellung hätte mir als Lehre des Dramas schon genügt!
Alles in allem verdient sich das Werk aus meiner Sicht ein klare Empfehlung für alle, die über einen schwachen Start und Abweichungen von der Wirklichkeit hinwegsehen können, um ein starkes Finish zu erleben.
Beitrag wurde zuletzt am 29.07.2022 00:38 geändert.
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