Und schon wieder bin ich irgendwie anders als andere Kinder. Immer wieder (auch abseits von Anisearch) kann man lesen, die Animationen seien schwach, die Hintergründe mäßig und wenig animiert, die Figuren ziemlich Standard und die Story nichts Neues. Entweder hat mich das nicht gestört oder ich hab's nicht so empfunden. Und gerade den letzten Punkt betreffend: Irgendwie ähnelt doch immer irgendwer irgendwem. Das bringt Genre und Setting so mit sich.
Der Anime spielt zur Zeit der Prohibition in Amerika, also grob gesagt in den 20er Jahren, in einem halb-fiktiven Umland von Chicago. Das erklärt auch schon die ungewohnt hohe Qualität der Hintergründe. Die nämlich muss man selber zeichnen und kann sie nicht einfach – wie es heutzutage Usus ist – abfotografieren und durch den Computer scheuchen. Man begegnet also hier viel Oldschool-Flair, zusätzlich genährt durch die zeitgenössischen Requisiten. Die Interieurs wie die vorherrschende Mode atmen die Imitation europäischer Stilrichtungen, die man in der neuen Welt halbverstanden in diese typische legere Halbgediegenheit ummünzt.
Das schlägt sich auch auf den Anime nieder. Vor allem auf die Wahl der künstlerischen Mittel, insbesondere seitens der Regie. Sachlich nüchtern gibt sich da allenthalben der
Friedhof, wo man doch eigentlich irgendwann mal die prächtig-kitschigen Zeugnisse katholischer
Sepulkralkultur erwarten müsste. So richtig mit Pietà, Schutzengeln, "Memento mori" und all dem verschnörkelten Pipapo. Aber nein, nix war's.
Genau das ist ja das Schöne, das Faszinierende an Mafiageschichten: man ballert sich zwar reihenweise übern Haufen und pflegt eine ungebrochen patriarchalische Gesellschaft – das aber mit Stil, mit kultureller Signifikanz und der gönnerhaften Attitüde des weltläufigen Mäzens. Ganz anders als die plebejische Konkurrenz aus dem Kosovo, dem Libanon oder gewissen ostischen Gefilden, wo man auf Bären zu reiten pflegt ("Moskau Inkasso").
Daher fallen für meinen Geschmack all die oben angeführten Kritikpunkte (so sie überhaupt zutreffen) auch gar nicht ins Gewicht. Solange eines gegeben ist: Der Anime muss in sich stimmig sein. Und das ist er weißgott.
Besonders die Animationen haben mir's angetan, speziell die Personen betreffend. Körperhaltung, Laufbewegungen, überhaupt alles, was sich bewegt; das ist nahe an der Realität und fühlt sich ziemlich echt an. Für mich ein großer Pluspunkt. Daß man da das Hintergrundgeschehen ("Stills") manchmal vernachlässigt, stört daher weniger. Mit einer Ausnahme: Automobile.
CGI-getriebene Autos, und das fast durchgängig. Es ist die Pest. Dermaßen katastrophal, daß jede analoge Umsetzung, und sei sie noch so ruckelig, weitaus mehr zur Atmosphäre beigetragen hätte als diese optische Zumutung. Die wenigen Momente, wo man diese Fahrzeuge
handanimiert durch die Gegend schaukeln sieht, bestärken diesen Eindruck.
Der zweite große Pluspunkt betrifft das, was mit "Atmosphäre" nur sehr unzureichend beschrieben werden kann. Vor allem die Wechsel der Perspektive, die Wahl der Winkel und die Details, die die Kamera ins Auge fasst: all das ist sehr beredt und erzählt oft mehr, als sich in Worten ausdrücken lässt. Auch hier: "Show, don't tell!" Diese Atmosphäre erinnert in Teilen an
Cowboy Bebop, aber vor allem an
Baccano, mit der zwar durchaus linearen, aber nicht immer geradlinigen Erzählstruktur und der Entscheidung, in wichtigen, auch emotional wichtigen Momenten sich genügend Zeit zu nehmen. Das zeigt sich vor allem in der 1. Episode und wird gegen Ende hin leider nicht immer ganz durchgehalten.
Der dritte, daß man nur wenige der animetypischen Ärgernisse zu Gesicht bekommt. Kein typisch japanisches Overacting, keine Pantsu, kein Shounen-mäßiges Überheblichkeitsgebaren, kein übertriebenes emotionales Getue. Mit zwei Ausnahmen: die Figur des
Fango und das demonstrativ desillusionierte Emo-Verhalten von
Avilio gegen Ende der Serie. Nicht, daß er nicht allen Grund dazu gehabt hätte! Aber so, wie das hier aufgezogen wird, ist das einfach
too much.
Zur Handlung selber ist nicht viel zu sagen; sie ist in den Grundzügen zwar ziemlich klar, aber dennoch angenehm komplex ausgelegt. Man kann eh nicht viel berichten, ohne zu spoilern. Nur soviel:
Drei Mafia-Familien, ein paar Freelancer und eine Handvoll Unbeteiligte. Plus ein rätselhafter Beginn, bei dem man wirksam "in media res" geschmissen wird, und dann auch noch ein Blick zurück. Daraufhin heißt es "7 Jahre später" – klar, daß man als Zuschauer da noch nicht den Überblick hat (oder haben kann), und das ist ja auch Absicht. Teil der Dramaturgie. Denn ins wilde Leben geworfen wird auch der Protagonist, der sich mit all dem und dem Unbekannten auseinandersetzen muss in dieser Welt, wo weniger die Frage ist,
wie man überlebt als vielmehr
bis wann man überlebt.
Der Zuschauer hat es insofern einfacher, als er nicht nur über eine Pause-Taste verfügt, sondern sich auch nicht allzu sehr Gedanken darüber machen muss, wer jetzt die Guten und wer die Bösen sind – also wem er demnach Sympathie entgegenbringen will und wem eher nicht. Diesen Fragen aller Fragen bei einem erzählenden Medium geht man dergestalt aus dem Weg, daß im Grunde alle irgendwie Arschlöcher sind. Systembedingt, sozusagen. Vielleicht mit Ausnahme von
Fio. Die Unterschiede sind eher gradueller Natur. Damit verändert sich auch die Warte, aus der besagter Zuschauer dem ganzen wilden Treiben folgt: der des interessierten Beobachters. Gefühle, Empathie gar, bleiben außen vor. Ein Verfahren, dem auch die meisten der hier versammelten Akteure folgen. Schon rein um des nackten Überlebens willen. Was auch irgendwie besser ist, denn der
body count ist gerade zu Anfang recht hoch.
Der Gang der dramatischen Ereignisse wird gelegentlich aufgelockert durch einen lapidaren Humor, der ganz dem Charakter und dem Verhalten der Beteiligten entspricht. Nichts wird forciert und nichts ist over-the-top. Mit bizarren Situationen und exzentrischen Eigenheiten wird allerdings auch nicht gespart, wie in Fangos Verhalten seiner Geliebten
Lacrima ("Träne" – ausgerechnet!) gegenüber ersichtlich wird, die äußerlich wie ein eingeweichtes und zu stark geschminktes Gummibärchen erscheint, es aber im privaten Verhältnis schon mal krachen lässt. Eine weitere Seltsamkeit erlebt man im
running gag der problematisch zubereiteten Lasagne, die dem japanischen Sprecher ganz Yakuza-typisch als "R-R-R-R-asanya da!" von der Zunge geht. Daß der oft und reichlich ins Bild gesetzte und überwiegend schwarz gebrannte Whiskey ausschaut wie eine Mischung aus Rostentferner und UNOX-Instantsoße – ja, gut. Ist halt Anime.
Die Filmmusik ist unauffällig, aber großartig und trägt sehr zur Stimmung dieser Serie bei. Oft aus dem zeitgenössischen Fundus der 20er Jahre, aber auch vom stillen und doch epischen Zuschnitt klassisch-romantischer Orchestermusik. Wer "
Once Upon a Time in America" kennt, weiß, was ich meine. Und weil manche Mafiosi es auch gerne mal gesittet angehen lassen und sich den Anschein profunden Kunstverstandes geben wollen, erklingt selbstverständlich immer mal wieder auch
Caruso aus dem mit Schellack-Platten bestückten Grammophon, die Highlights italienischer Opernarien schmetternd.
Apropos Oper: die Aufführung im neuen Theater bringt Verdis »
Macbeth« auf die Bretter und liefert somit den passenden wie bedeutungsschwangeren musikalischen Hintergrund für den Showdown, der dazu inszeniert wird. Viele der Episodenüberschriften sind zudem der literarischen Vorlage von Shakespeare entnommen, so daß sich der Kreis auch hier gewissermaßen schließt.
Das Opening – ist ganz nett und steht meist am Anfang der Folgen. Das Ending ist eher emotional und einprägsam melodisch, verbindet die Stimmung des Endings von
Gunslinger Girl mit einigen kleineren Anleihen des Openings von
Spice and Wolf.
Fazit:
Mir hat's gefallen. Zugegeben, es wird viel rumgeballert, und um den Überblick zu behalten, wer jetzt wen warum umgenietet hat, bräuchte man eigentlich eine Skizze oder ein Flipchart. Vor diesem Hintergrund muss man sagen, daß es diese orgiastischen Maschinengewehrfeuer, mit denen man der Dramatik noch ein Letztes mitgeben musste, so nicht gebraucht hätte. Daß es aber in einem Mafia-Anime mit Rachehintergrund Elemente gibt, die auch in Mafiafilmen älteren Baujahrs schon auftauchen, scheint für manche die allergrößte Überraschung und eine wahrhaft epochale Erkenntnis zu sein.
Beitrag wurde zuletzt am 11.05.2023 16:31 geändert.
Kommentare
Leider ist so unglaublich viel off-screen und/oder zwischen den Folgen passiert, das es im besten Falle schwer und in den meisten Fällen unmöglich war der Story genau zu folgen. Dazu kommt noch das gelegentliche Stilmittel Storyabschnitte unchronologisch zu zeigen und wenig Rücksicht darauf, wie viel Abstand zwischen dem Wissen der Charaktere und dem Wissen der Zuschauer liegt.